Fehlende Konzepte für die Kita- und Schulöffnung – Die große Gefahr Elternerwartungen zu enttäuschen

Bildungsforscher und Gründer der ElternHotline, Dr. Dieter Dohmen, zu den Öffnungen von Kita und Schule in den Bundesländern

Die Familien- und Kultusminister sind gerade im Überbietungswettbewerb: „Wer verspricht schnellere und weitreichendere Öffnungen“? Ohne echte Konzepte, wie das gelingen kann, ist die Gefahr groß, dass mehr versprochen wird, als hinterher gehalten werden kann. Entweder ist alles falsch, was in den letzten drei Monaten richtig war, oder die Rückkehr zum sogenannten Normalbetrieb wird es noch längere Zeit nicht geben.

Fehlende Konzepte für die Kita- und Schulöffnung – Die große Gefahr Elternerwartungen zu enttäuschen

Sachsen machte den Anfang und öffnete Kitas und Schulen weitgehend, andere Länder folgten – wie eine Reihe von Dominosteinen fiel ein Land nach dem anderen um und erklärte eine kurzfristige Rückkehr zum angeblichen Normalbetrieb. Auch wenn die Schritte auf dem Weg zum angeblichen Normalbetrieb sehr unterschiedlich sind, so bleiben bisher am Ende vor allem enttäuschte Elternerwartungen.

Egal ob vier Stunden Kita pro Tag für Kinder von Eltern, deren Berufe nicht systemrelevant sind, stundenweiser Unterricht in der Schule für geteilte Klassen pro Tag oder wie im Einzelfall auch immer – es ist für die Ministerien zwangsläufig Herantasten und Stückwert. Aber das sollte auch ehrlich kommuniziert werden – und vor allem nicht auf dem Rücken von Kita- und Schulleitung beziehungsweise ErzieherInnen und Lehrkräften ausgetragen werden. Sie müssen im Einzelfall erklären und begründen, warum sie das Kind der Eltern A aufgenommen haben, das Kind von B aber nicht. In den politischen Verlautbarungen werden hochfliegende Erwartungen geweckt, die im praktischen Alltag nicht umgesetzt werden können.

Die Politik folgt damit zwar den Erwartungen und Forderungen von Eltern, Journalisten und WissenschaftlerInnen, wobei letztere zum Teil ihre Eigenschaft als Eltern nicht transparent machten, sondern diese hinter ihrer Rolle als JournalistIn oder WissenschaftlerIn versteckten.

Rückkehr zum Normalbetrieb vorerst nicht realistisch

Dieser Tage wurde ich wieder einmal Zeuge eines Interviews mit einem führenden Familien- oder Bildungspolitiker, der darauf drängte, dass Kitas und Schulen spätestens nach den Ferien zum Normalbetrieb zurückkehren sollen, „sofern die Umstände es zulassen“. Man sei im Gespräch mit den zuständigen Stellen, das Hygienekonzept zu überarbeiten und dadurch den Normalbetrieb zu ermöglichen.

Nur zur Erinnerung: auch weiterhin gelten Abstandsregelungen und in Teilen Maskenpflicht etc., um das Übertragungsrisiko zu minimieren; Tische in Restaurants und Kneipen müssen weiter auseinanderstehen als vorher und nach jeder Benutzung desinfiziert werden. Personen, die 60 Jahre und älter sind, gelten ebenso weiterhin als besonders risikogefährdet, wie Personen mit relevanten Vorerkrankungen. Auch in Kaufhäusern und (öffentlichen) Verkehrsmitteln gelten besondere Vorschriften: Personen dürfen sich nach wie vor nicht uneingeschränkt treffen, um das Risiko so gering wie möglich zu halten.

Solange diese Maßnahmen weiterhin richtig sind, kann es keine Rückkehr zum Normalbetrieb in Kitas und Schulen geben – weder vor noch nach den Ferien. Dies muss Eltern klar und deutlich, und insbesondere ehrlich, kommuniziert werden. Ansonsten werden jetzt Hoffnungen geweckt, die in wenigen Wochen enttäuscht werden müssen.

Wissenschaftliche Erkenntnisse über Übertragungsrisiko noch nicht ausreichend

Genauso klar zu kommunizieren ist auch die Unsicherheit über den aktuellen Kenntnisstand, welches Risiko Kinder in welchem Alter haben zu erkranken, sich zu infizieren beziehungsweise das Virus zu übertragen. Diese drei Sachverhalte – Infektion, Erkrankung und Übertragung – müssen unterschieden werden: Ja, kleinere Kinder erkranken deutlich seltener als ältere Kinder, aber es ist bisher unklar wie groß das Infektions- und Übertragungsrisiko wirklich ist. Wenn es auch in der Wissenschaft oder Praxis unterschiedliche Empfehlungen gibt, so beruhen diese nicht auf unterschiedlichen Studien, sondern auf einer anderen – risikofreudigeren oder vorsichtigeren – Einschätzung bzw. Bewertung des verbleibenden Risikos.

Auch ist es unwahrscheinlich, dass sich das Risiko zwischen dem Alter von neun und zehn Jahren deutlich verändert – wenn dieser Eindruck entsteht, dann ist das dadurch bedingt, dass Altersgruppen gebildet werden (0-9 und 10-19 Jahre, oder 0-10 und 11-20 Jahre). In der Praxis steigen Risiken offenbar mit dem Altersjahr an und sind für neunjährige Kinder nur unwesentlich geringer als für zehnjährige. Grundlegend unterschiedliche Politiken für neunjährige Grundschul- und zehnjährige Sekundar- oder MittelschülerInnen können dadurch nicht begründet werden.

Auch steigt mit zunehmender Gruppengröße das Infektions- bzw. Übertragungsrisiko: wenn z.B. das Risiko ein Prozent beträgt, dann heißt das, dass unter 100 Personen im Schnitt eine Person ist, die das Virus trägt. Hat eine Gruppe fünf Kinder, dann ist in einer von 20 Gruppen ein Kind mit dem Virus – bei Zehnergruppen ein Kind je zehn Gruppen. Bei fünf Kindern pro Gruppe wären vier weitere Kinder und der/die ErzieherIn ansteckungsgefährdet, bei Zehnergruppen neun weitere Kinder und der/die ErzieherIn. Mit anderen Worten: je größer die Gruppen, je größer im konkreten Fall die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind – oder der/die ErzieherIn – darunter das Virus trägt, die Zahl der Gefährdeten und die Zahl der indirekt Betroffenen (Eltern, Freunde, etc.). D.h. solange das Übertragungsrisiko besteht, beziehungsweise es keinen Impfstoff gibt, sind kleinere Gruppen klar besser als größere. Auch sollten Gruppenwechsel möglichst gering gehalten werden. Es wäre daher z.B. kontraproduktiv, wenn ein/e ErzieherIn morgens fünf oder zehn Kinder der einen und nachmittags fünf oder zehn Kinder einer anderen Gruppe betreut.

Kapazitäten an Betreuungspersonal und Räumlichkeiten fehlen

Gleichzeitig beschränken die Zahl der anwesenden ErzieherInnen beziehungsweise Lehrkräfte sowie die räumlichen Gegebenheiten die Zahl der Gruppen beziehungsweise Kinder, die gleichzeitig betreut beziehungsweise beschult werden können oder in einem Raum anwesend sein dürfen. Wenn aber je nach Einrichtung zwischen 15 und 30 Prozent der ErzieherInnen beziehungsweise Lehrkräfte aus Alters- beziehungsweise Gesundheitsgründen nicht anwesend sein können, so schränkt auch dies die Möglichkeiten der Kita oder Schule ein, zum sogenannten Normalbetrieb zurückzukehren. Allerdings verhindert dies zumindest in den Schulen nicht die Möglichkeit, diese Lehrkräfte für Fern- oder digitalen Unterricht einzusetzen – vorausgesetzt, Schule, Lehrkraft und SchülerInnen haben die erforderliche IT-Infrastruktur und die nötigen digitalen Kompetenzen. In den allermeisten Fällen hapert es an dem Einen und/ oder Anderen.

Ohne Impfstoff kein Zurück zum Normalzustand möglich

Zusammenfassend lautet mein Schluss daher leider: eine wirkliche Rückkehr zum Normal- oder Regelbetrieb wird es solange nicht geben können, solange es keinen Impfstoff gibt, der das Risiko von Infektion, Erkrankung oder Übertragung soweit reduziert, dass wir wieder einigermaßen „normal“ werden leben können. Alles andere ist meines Erachtens Augenwischerei und dient vor allem dazu, dass die Maßnahmen, die alternativ angegangen werden müssten, nicht angegangen werden.

Das Kita- und insbesondere Schulsystem ist seit Jahrzehnten vernachlässigt worden, auch wenn sich in den letzten Jahren das eine oder andere positive getan hat. Und diese Versäumnisse fallen Eltern und Kinder einerseits, Kitas und insbesondere Schulen heute auf die Füße. Familien- und Bildungspolitik sollten dafür Sorge tragen, dass wir nicht bei der nächsten Pandemie oder in zehn Jahren sagen müssen: Es sind wieder etliche Jahre ins Land gegangen, ohne dass Kitas und Schulen zukunftsfähiger gemacht wurden.

 

Dr. Dieter Dohmen ist Analyst, Querdenker, Visionär und als Inhaber und Direktor des FiBS Forschungs-instituts für Bildungs- und Sozialökonomie (www.fibs.eu) und geschäftsführender Gesellschafter der FiBS ElternHotline gGmbH i.G. (www.ElternHotline.de) auch Sozialunternehmer.

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