Zum Beschluss der Kultusministerkonferenz

Mit butterweichen Formulierungen zum regulären Schulbetrieb nach den Sommerferien

Die Kultusministerinnen und -minister, wie auch die Kultusministerkonferenz, gaben in den letzten drei Monaten, d.h. seit Beginn der Corona-Krise, kein überzeugendes Bild ab – und dies ändert sich auch mit dem aktuellen Beschlusslage nicht. Mit zum Teil butterweichen und dehnbaren Formulierungen wollen sie den Eindruck erwecken, dass es im kommenden Schuljahr regulären Unterricht geben kann.

Zum Beschluss der Kultusministerkonferenz

Konkret heißt das, dass alle Schülerinnen und Schüler wieder ganz normal in die Schule ge-hen werden. Der Unterricht soll in der Klasse bzw. Gruppe so erfolgen, wie im Stundenplan vorgesehen.
Allerdings bleibt weiterhin unklar, wie das genau aussehen kann und welche Voraussetzungen dafür erforderlich sind. Liest man den Beschluss, dann bleiben viele Fragen offen – es fehlen weiterhin konkrete Konzepte

Die KMK will den Regelbetrieb unter allen Umständen erzwingen

Nur als Erinnerung: Auch ohne die Corona-Krise fehlen in fast allen Bundesländern viele Lehrkräfte; wie viele es sind, hängt davon ab, ob man die Kultusministerien, die Gewerkschaften oder andere Bildungsprognosen, wie etwa vom FiBS, befragt. Diese Lücke wird sich in Corona-Zeiten in allen Bundesländern vergrößern - je nach dem, wie groß der Anteil der Lehrer mit Risikofaktoren ist. Hierzu zählen das Alter, aber auch Vorerkrankungen – einschließlich der Risikopersonen unter nahen Angehörigen. Die Verschärfung der Bedingungen für Atteste hilft nur vordergründig.

Die Risikosituation wird sich sowohl für Schülerinnen und Schüler als auch Lehrkräfte verschärfen, wenn die Abstandsregeln wirklich abgeschafft bzw. aufgehoben werden sollten. Auch hier zur Erinnerung: weder das Robert-Koch-Institut als auch die Ministerpräsidentenkonferenz hat dieses Abstandsgebot aufgehoben. D.h. es gilt vor dem Hintergrund der erhöhten Gesundheitsgefährdung bei Nicht-Einhaltung auch weiterhin in allen anderen Bereichen. Warum es ausgerechnet in der Schule aufgehoben werden soll, ist nicht nachvollziehbar. Der einzige Grund liegt offenbar darin, den Regelbetrieb unter allen Umständen erzwingen zu wollen.

Schule ohne Abstandsregeln ist ein Risikospiel für alle Beteiligten

Unklar ist weiterhin, wie groß das Infektions-, Erkrankungs- und Übertragungsrisiko unter Kinder unterschiedlichen Alters wirklich ist. Auch wenn es mittlerweile wahrscheinlich zu sein scheint, dass das Risiko für Kinder geringer ist (als bei Erwachsenen), so ist es für ältere Kinder (d.h. die älter als zehn Jahre alt sind) deutlich höher als bei jüngeren Kindern.
Allerdings ist dabei auch zu beachten, dass die Kinder in den zugrundeliegenden Studien in Altersgruppen unterteilt werden müssen, und somit scheinbar sprunghafte Anstieg zu beobachten sind. Faktisch ist es aber so, dass das Risiko mit jedem Jahr zunimmt. D.h. es ist für neunjährigen Kinder höher als für achtjährige. Die Coronafälle unter Kita-und Schulkindern sowie die vereinzelten erneuten Klassen- bzw. Schulschließungen, nicht nur in Göttingen und Gütersloh, sind ein deutlicher Hinweis auf bestehende Risiken – auch wenn in fast allen Fällen darauf verwiesen wird, dass die Infektion nicht in der Schule erfolgt sei. Selbst, wenn das bisher zutreffen sollte – wer trägt die Verantwortung, wenn es die ersten Superspreader in einer Schule gibt? Ich bin gespannt, welche Begründung dann gesucht wird, um diese Verantwortung zurückzuweisen.

Vor diesem Hintergrund halten nicht nur die Gewerkschaften und Lehrerverbände die Ansage, dass die Abstandsregelungen nicht gelten sollen, für falsch, sondern auch der Vorsitzende des Bundeselternrates, Stefan Wassmuth, äußerte sich entsprechend. Statistisch zwingend ist, dass das Übertragungsrisiko mit zunehmender Gruppen- oder Klassengröße deutlich ansteigt.
Sollte es einmal einen Ansteckungsfall geben, sind nicht 10 oder 15 Mitschüler/innen bedroht, sondern 30. Wenn es normalen Unterricht nach Stundenplan gibt, heißt das auch, dass die Lehrer bis zu drei oder vier Klassen pro Tag haben können, d.h. sollte sich ein Lehrer/in anstecken, sind im Extremfall bis zu 100 Schüler/innen bedroht.

In dem aktuellen Fall mit großer Ansteckungszahl in Neukölln reichte vermutlich ein kranker Priester/Pfarrer, um die Kette in Gang zu setzen und insgesamt über hundert Menschen zu identifizieren. Passiert das in einer Schule, dann dürfte die Aufregung groß sein.
Die derzeitige Erleichterung vieler Eltern darüber, dass ihre Kinder wieder in die Schule gehen können, würde wohl spätestens dann in Verärgerung umschlagen, wenn sie in Quarantäne müssen und ihren beruflichen Pflichten nicht nachkommen können oder gar erkranken.

Im Bildungssystem ist Deutschland digitales Entwicklungsland

Mit dem Beschluss gehen die Kultusministerinnen und -minister ein hohes Risiko ein: sollten sie Glück haben und es keine größeren Infektionswellen geben, dann hat sich dieses Risiko gelohnt. Sollte es eine größere zweite Welle geben, und die Schulen maßgeblich an der Ausbreitung beteiligt sein, dann werden sie sich dafür verantworten müssen.
Faktisch ist es aber auch so, dass sie kaum eine andere Chance hatten – die Schulen sind im Bereich Digitalisierung und Fernunterricht, aber auch Lehrkräfteaus- und -fortbildung viel zu schlecht aufgestellt, um auch nur halbwegs regulären Unterricht gewährleisten zu können.

Obwohl die Digitalisierung des Schulwesens seit über zwanzig Jahren auf der Tagesordnung steht, sind die meisten Schulen in Deutschland bis heute völlig unzureichend ausgestattet. Im Bereich Digitalisierung der Schulen ist Deutschland ein Entwicklungsland. Die Entwicklungen seit Beginn der Krise sind unzureichend und viel zu zögerlich. Die Kultusministerien wirken auf mich erstarrt. Zwar sind hier und da ein paar Geräte für Kinder aus benachteiligten Familien beschafft worde, dort ein paar Euro für die digitale Austattung von Schulen zusammengekratzt worden, aber eine wirkliche Dynamik zur umfassenden Ausstattung von Schulen gibt es bisher nicht.  Wie soll es nun gelingen, über ein Million Geräte über die Sommerferien zu besorgen, damit am Anfang des kommenden Schuljahres, alle Schülerinnen versorgt sind – von einer deutlich besseren Ausstattung der Schulen ist wenig zu hören. Damit sind auch im kommenden Schujahr die Voraussetzungen für einen digitalen Unterricht, anstelle des bisherigen Fernunterrichts, nicht gegeben. Geht das noch lange weiter so, dann werden deutsche Schülerinnen und Schüler ihre Digitalkompetenz – anders als in anderen Ländern – jedenfalls nicht in der Schule erwerben. D.h. den Auszubildenden im dualen System, die Studienanfänger in den Hochschulen  fehlen zentrale Kompetenzen, um in einer digitalisierten Arbeitswelt mithalten zu können. Aufgrund der viel zu langsamen Beschaffungsprozesse gefährdet Deutschland seine wirt-schaftlich starke Stellung.

Auch in der Lehrerausbildung haben die Kultusminister/innen viel zu spät auf den sich abzeichnenden demografischen Umschwung reagiert. Sah es lange Zeit – konkret: bis 2012/13 – so aus, als würden die kommenden Schülergenerationen immer kleiner, wurde erst im letzten Jahr 2019 eine erkennbare Umsteuerung eingeleitet – und auch diese bisher eher halbherzig. D.h. es wird in absehbarer Zukunft, und möglicherweise bis zum Ende der 2020er Jahre, an hinreichend qualifizierten Lehrkräften fehlen, wozu auch eine hohe Digitalkompetenz, bezogen auf die Unterrichtsgestaltung, zählt.

Die Digitalkompetenz wird bisher ja leider auch in der Lehrkräftefortbildung offenbar kaum fortentwickelt. Eine Erhebung, die während der Corona-Krise unter Lehrkräften durchgeführt wurde, brachte das erschreckende Ergebnis, dass sich nur 15 Prozent von ihnen gute Digitalkenntnisse bescheinigt. Ein beschämendes Bild und klarer Hinweis darauf, dass die Digitalisierung auch in der Lehrkräftefortbildung eine untergeordnete Rolle spielt (und das Gros der Lehrkräfte keine große Notwendigkeit sieht, sich darum zu kümmern). Allerdings nachvollziehbar, wenn die Schulen keine oder nur eine rudimentäre IT-Ausstattung haben.

Die schlechte Ausgangslage lässt nur einen Befreiungsschlag zu

Angesichts dieser Ausgangslage bleibt der Kultusministerkonferenz tatsächlich kaum eine andere Alternative, als mit der angekündigten Rückkehr zum Normalbetrieb einen Befreiungsschlag zu versuchen und alles auf eine Karte zu setzen. Gelingt er, werden sie sich im Recht sehen, schlägt er fehl, wird es zu einer Kettenreaktion der Rücktritte kommen müssen. Angesichts der schwachen Position der Kultusministerien in der politischen Hackordnung sowie der bildungspolitischen Ignoranz und Inkompetenz in Deutschland ist allerdings zu bezweifeln, dass selbst eine solche Situation zu einem wirklichen Umdenken führen wird.

Wirtschaft sowie Politik agieren seit Jahrzehnten bräsig und ignorant

Seit der Bildungsoffensive in den 1970er-Jahren gab es keine bildungspolitische Maßnahme, die in den Schulen etwas bewirkt und Deutschland wirklich vorangebracht hat. Selbst die großen Rückschläge der vergangenen dreißig Jahre – u.a. die schlechten Ergebnisse bei der TIMSS-Studie 1995 oder der sog. Pisa-Schock im Jahr 2001 – haben zwar politischen Reformaktionismus, aber kaum wirkliche Verbesserungen des Bildungswesens zur Folge gehabt.

Es ist vor diesem Hintergrund ein wirkliches Wunder, dass Deutschland – trotz eines mittelmäßigen Bildungssystems – weiterhin zu den wirtschaftlich führenden Ländern zählt. Sollte die Corona-Krise hier nicht zu einer deutlichen Kehrtwende in der Bildungspolitik führen, dann ist es für mich nur noch eine Frage der Zeit, bis Deutschland diese Position verliert. Die Bräsigkeit und Ignoranz auch der Wirtschaft, die die Auswirkungen der Digitalisierung und Automatisierung fast verschlafen hat, ist ein Spiegelbild der Politik. 

Hier gehts zur vollständigen Pressemitteilung der Kultusministerkonferenz zum Beschluss vom 18.6.2020.

Dr. Dieter Dohmen ist Analyst, Querdenker, Visionär und als Inhaber und Direktor des FiBS Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie und geschäftsführender Gesellschafter der ElternHotline gGmbH i.G. auch Sozialunternehmer.

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