Gleichberechtigung in Familien

Was das bedeutet und was du tun kannst

Diskriminierung, Sexismus und fehlende Selbstbestimmung: All das erleben Menschen und vor allem Frauen jeden Tag. Es gibt Ansätze, die sich genau dem entgegenstellen und sich mit der Gleichberechtigung in verschiedenen Lebensbereichen beschäftigen. Uns als ElternHotline interessiert da natürlich besonders die Familie und der Lebensalltag von Eltern. Deshalb wollten wir mehr erfahren und haben Melina gefragt. Melina, 31, ist Queerfeministin, Sozialarbeiterin und schreibt momentan an ihrer Masterarbeit im Studiengang Gender Studies zum Thema Leihmutterschaft. Sie ist Dozentin an zwei Hochschulen und arbeitet in einer Fachstelle für Gewaltschutz für Mädchen* und junge Frauen* mit Behinderung / chronischer Erkrankung.

Gleichberechtigung in Familien
  1. Wie würdest du einem Kind Feminismus erklären?

Das kommt auf das Kind an. Wahrscheinlich würde ich sagen: Feminismus heißt, dass Leute egal welches Geschlecht sie haben, gleichberechtigt sein können sollten. Dafür setzen sich Feministinnen schon seit vielen Jahren auf der ganzen Welt ein.

  1. Wir möchten gerne mehr über das Thema Feminismus im Zusammenhang mit der Elternrolle erfahren. Magst du uns einen kleinen Einblick in dieses umfangreiche Thema geben?

Früher, als es noch das klassische fordistische Modell gab, in dem der Mann Alleinverdiener war und die Frau sich ausschließlich um den Mann, den Haushalt und die Kindererziehung kümmerte, war die gesellschaftlich vorgesehene Rolle für den jeweiligen Elternteil strikt und klar vorgezeichnet. Heute ist alles viel flexibler. Es gibt erstens viel mehr anerkannte sexuelle Orientierungen und Geschlechter und deswegen zweitens viele verschiedene Modelle, wie Elternschaft gelebt werden kann. (...) Feministische Kämpfe haben dazu beigetragen, dass Frauen (damit meine ich alle Menschen die sich selbst als Frau bezeichnen) mehr Rechte bekommen haben. In Deutschland benötigten Frauen bis zum Jahr 1977 die schriftliche Erlaubnis ihrer Ehemänner, um Lohnarbeit nachzugehen. Solche strukturellen Sexismen gibt es heutzutage leider immer noch - allerdings weniger plakativ, was viele Menschen vermuten lässt, dass es heutzutage keinen Sexismus und die völlige Gleichstellung der Geschlechter gäbe. Dem ist allerdings nicht so. Leider. (...) Viele Familien sind beispielsweise auf das volle Gehalt des Besserverdieners (meistens ein Mann) angewiesen. (...) Die Erfahrung und die Studien zeigen, dass selbst die emanzipiertesten Mütter häufig mehr Arbeit im häuslichen Bereich machen, als sie es sich wünschen.

Es braucht Auseinandersetzung und Reflexion mit dem Thema. Werdende Eltern sollten grundlegende Diskussionen darüber führen wie genau sie sich die anfallende, sich immer wiederholende Arbeit wie Wäsche waschen, Putzen, Kindererziehung etc. aufteilen wollen. Falls Vereinbarungen getroffen wurden, sollten diese regelmäßig überprüft werden. Was war realistisch? Was hat gut geklappt? Wo hakt es? Was sind meine Bedürfnisse?

  1. Homeoffice, Homeschooling und andere Herausforderungen, die durch Corona entstanden sind, haben das Thema mehr in den Fokus gerückt. Was wurde besonders deutlich hinsichtlich der Mutter- bzw. Vaterrolle?

Während der Pandemie hat sich deutlich gezeigt, dass Mütter die ungewürdigten Heldinnen unserer Gesellschaft sind. Ich habe im Radio einen Beitrag gehört. Ein Mann rief beim Sender an während einer Show zum Thema Corona. Das Thema war: „Die guten Seiten der Krise“. Der Anrufer sagte, dass er es toll findet, seinen Sohn jetzt wirklich einmal richtig kennenzulernen, da er momentan nicht arbeiten könne und viel Zeit habe. Auf die Frage des Moderators wie alt sein Sohn sei, antwortete der Anrufer: „sieben“.

Um ehrlich zu sein wäre ich in dem Moment fast vom Stuhl gefallen. Ein Vater hat seinen Sohn nicht kennengelernt, bis er sieben Jahre alt wurde. Sieben! Dabei leben die beiden zusammen, sehen sich vermutlich jeden Tag. Ich frage mich, wie das sein kann, was in unserer Gesellschaft schief läuft, dass Väter ihre eigenen Kinder nicht kennen, während Mütter häufig in den sogenannten systemrelevanten Berufen unter prekären Bedingungen Überstunden machen und sich anschließend noch der emotionalen Arbeit in der Familie und der Reproduktionsarbeit im Haushalt widmen. Teilweise ist es ja immer noch so, die Pandemie ist nicht vorbei. Klar, dass das Kind sich nicht vom Vater beruhigen lässt, wenn der bislang eher weniger „kennengelernt“ wurde. Zusätzlich dazu hat die Person, die schon immer den größeren Anteil an Reproduktions- und Carearbeit hat, auch noch den ganzen Mental-Load. An Sachen denken wie Montag die Kids zum Fußball fahren, Geschirrspüler ausräumen, Mittwoch Impftermin mit der Großen, Schwiegereltern eine Karte zur goldenen Hochzeit schicken und Geschenke kaufen und so weiter. Die Dinge, die häufig so ganz selbstverständlich nebenher gelaufen sind in heterosexuellen Paarbeziehungen häufig immer noch Aufgabe von Frauen. Das wird deutlich durch Krisen.

  1. Welche Chancen siehst du darin, dass die Debatte durch Corona und die veränderten Alltagsstrukturen der Eltern eine neue Dynamik bekommen hat?

Nun ja, viele Eltern sind am Ende. Zahlreiche Menschen mit schreienden Kindern auf den Schößen sehe ich wöchentlich in Zoom-Meetings und sie alle sagen, dass sie nicht mehr können und das schon seit Wochen. Ich denke, dass vielen Menschen klar geworden ist, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann und sich Dinge ändern müssen. Sowohl in der eigenen Beziehung, in der erweiterten Familie und in der Familienpolitik. Es braucht einen offenen Austausch, Ideen, Entwicklung von Maßnahmen, Hilfen für Eltern die konkret ankommen. Die Frage ist, ob bei den Eltern momentan genügend Energie und Zeit da ist, um sich politischen Kämpfen dazu anzuschließen und sich zu vernetzen, um gemeinsam etwas zu erreichen. Vielleicht braucht es erstmal Erholung.

  1. Hast du konkrete Ideen oder Handlungsempfehlungen für Eltern, die einen gleichberechtigten Alltag als Familie anstreben und sich verändern wollen?

Reden, reden, reden! Aus meiner Erfahrung in einer Familien-Beratungsstelle weiß ich: Es wird viel zu selten darüber gesprochen, was die einzelnen (werdenden) Elternteile für Bedürfnisse haben, was ihnen besonders wichtig ist, wie die Dinge idealer Weise laufen sollen und wie man mit Abweichungen davon umgehen kann-gemeinsam! Wenn Familien darin wenig Erfahrung haben, hast du die Möglichkeit, dir Unterstützung und Hilfe zu holen. Es gibt viele qualifizierte Berater*innen, mit den Familien gemeinsam Lösungen finden können, in dem sie sicherstellen, dass alle verstanden werden und allen Anliegen Gehör geschenkt wird.

Du kannst dich auch mit Hilfe von Literatur zu dem Thema gemeinsam informieren. Elternzeitschriften wie diese haben häufig Artikel dazu. Ebenso können Familien und/oder Paare auch die gleichen Podcasts zu diesen Themen anhören und anschließend darüber sprechen. Ich kann den Podcasts von Charlotte Roche „Paardiologie“ dazu empfehlen.

  1. Wie schafft man es als Familie, sich gegen die gesellschaftlichen Konventionen zu behaupten und gleichberechtige Elternrollen zu definieren?

Such dir Verbündete! Besuche oder gründe Elternkreise, Krabbelgruppen, Politgruppen und andere Formen von Zusammenkünften, die es dir ermöglichen, sich auszutauschen, gemeinsam neue Ideen zu entwickeln, sich gegenseitig zu berichten wie es bei dir läuft, sich Halt zu geben und die es dir ermöglichen, du selbst zu sein. Queere Elterngruppen können dazu eine gute Orientierung sein. Auf den Spielplätzen und im Schwimmkurs lernt man häufig Eltern kennen, denen es genauso geht wie dir. Sprich sie darauf an, ob sie an Austausch über emanzipierte Elternschaft interessiert sind und lade sie ein. Beachte: Alle haben ihr eigenes Level und das ist okay. Sei gnädig mit dir und den anderen, wenn du feststellst, dass wieder mal nur die Mütter Muffins und Pizzaschnecken für alle mitgebracht haben ????

  1. Ein Blick in die Zukunft: Was wünscht du dir aus feministischer Perspektive für Familien?

Ich wünsche mir, dass alle Familien rechtlich anerkannt werden! Es kann nicht sein, dass die heterosexuelle Kleinfamilie immer noch das Ziel staatlicher familienpolitischer Maßnahmen Nummer eins ist. Regenbogenfamilien, Alleinerziehende, Patchworkfamilien und polyamorösen Familien sollten die gleichen finanziellen sowie idealistischen Mittel zur Verfügung gestellt bekommen wie heterosexuellen Paaren. Es braucht eine Anerkennung dessen, was Eltern leisten! Unabhängig davon, wer wie geschlechtlich oder sexuell orientiert ist!

  1. Noch eine Frage persönliche Frage zum Schluss: Wie bist du selbst dazu gekommen, dich intensiv persönlich und fachlich mit Feminismus auseinanderzusetzen? Warum liegt dir das Thema am Herzen?

Ich habe angefangen mich mit Feminismus (genauer Queerfeminismus) auseinander zu setzen, weil ich als weiblich gelesene Person in dieser Gesellschaft schon immer aufgrund dessen diskriminiert wurde. Mit 10 Jahren hat mein Kinderarzt mir gesagt, dass ich abnehmen soll, weil ich ja sonst „nie einen Freund finden würde“, mit zwölf hat mir mein Bruder gesagt, dass ich mir die Beine rasieren soll, da ich ja sonst „keine richtige Frau wäre“ und mit 14 hat mich ein Junge aus der Nachbarklasse ohne Vorwarnung auf den Mund geküsst und auf meine Gegenwehr dazu gesagt, dass ich „froh“ sein soll, dass mich überhaupt irgendwer küsst.

Als ich dann das erste Mal ein Buch von Judith Butler (DIE Gender Studies Forscherin unserer Zeit) aufschlug, dachte ich beim Vorwort: Ja! Das ist es! Meine Probleme waren nicht individuell, die Sache, unter der ich schon mein Leben lang leide, heißt Sexismus. Als ich erkannt habe, dass ich nicht allein damit bin, habe ich angefangen Gender Studies zu studieren. Ich weiß jetzt wie ich Sexismen und Sexisten begegnen kann und darüber bin ich froh. Auch wenn der Weg noch lang ist, ich geh ihn gern!

 

Die ElternHotline bedankt sich bei Melina für ihre Zeit und den aufschlussreichen Input zum Thema Feminismus und Gleichberechtigung.

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