Ich sag dir mein Geschlecht – du sagst mir, wer ich bin?
Wie der Umgang mit geschlechtlicher Vielfalt in der Erziehung gelingen kann
Bestimmt hast du schon einmal gehört, ein richtiger Junge weine nicht und ein Mädchen interessiere sich nicht für Technik. Das sind Verhaltensweisen, die typisch für das Geschlecht einer Person sein sollen. Doch natürlich weint jeder Junge einmal und auch Mädchen träumen davon, als Astronautin ins All zu fliegen. Welche Auswirkungen haben diese gesellschaftlichen Ansichten auf uns und unsere Kinder? Wir haben Jenny Wilken, trans Mama und Expertin für geschlechtliche Vielfalt, gefragt.
Es sind mehr Farben im Regenbogen als Blau und Rosa
„Der Mensch braucht diese geschlechtliche Einordnung, um die Welt einfach zu halten und presst sich in Kategorien“, so die Expertin Jenny Wilken. Wir geben uns und anderen eine Geschlechtsrolle mit vermeintlich typischen Eigenschaften, um unseren Platz in der Gesellschaft zu finden.
In vielen westlichen Ländern der Welt haben wir den Kapitalismus als Wirtschafts- und die Heteronormativität als Gesellschaftsform. Sie konfrontieren uns von klein auf mit eindeutigen Zuweisungen: Blau für Jungs, Rosa für Mädchen. Häufig ist es sogar schwierig, Babykleidung zu finden, die nicht dieser Aufteilung folgt. Es geht weiter bei der Einrichtung des Kinderzimmers und bei der Überlegung, welches Spielzeug gekauft werden soll. Puppen nur für Mädchen und Autos nur für Jungen?
Dazu erzählen Kinderbücher meist nur von Vater-Mutter-Kind-Familien, geschlechtliche Vielfalt und gleichgeschlechtliche Paare kommen selten vor. Mit Vielfalt lässt sich schlicht weniger Geld verdienen als mit Produkten, die in großen Stückzahlen nach einem Muster hergestellt und verkauft werden können.
„Es limitiert und kann starke Verletzungen hervorrufen, wenn ein Mensch nicht so sein darf, wie er ist.“ - Jenny Wilken
Jenny Wilken warnt vor negativen Auswirkungen auf die Psyche eines Menschen. So werden Jungs und Männer, die heute vermeintlich typisch weibliche Kleidung wie Kleider und Röcke tragen, oftmals verspottet. Dabei war es noch vor 300 Jahren nichts Ungewöhnliches, wenn sich Männer mit hohen Hacken und Seidenstrümpfen, geschminkten Gesichtern und prächtiger Kleidung zeigten. "Es wäre wünschenswert und extrem wichtig, dass die Gesellschaft anerkennt, dass es geschlechtliche Vielfalt gibt und es nicht schlimm ist, wenn man sich nicht einem Geschlecht zuordnen kann oder möchte. Das Geschlecht, das in der Geburtsurkunde eingetragen ist, kann sich im Laufe des Lebens ändern – es ist nicht festgeschrieben."
Siehst du dir die Situation von transsexuellen Kindern und Erwachsenen oder von intersexuellen Personen an, wird das Problem klar: Wie sollen sie ihren Platz in unserer zweigeteilten Gesellschaft einnehmen, ohne gleichzeitig herauszufallen? Das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht stimmt nicht (Transsexualität/Transidentität) oder es konnte bei der Geburt anhand der äußeren Merkmale keine Zuweisung erfolgen, da der Körper „männliche“ und „weibliche“ Merkmale aufweist (Intersexualität).
Die Antwort lautet: Wir müssen uns und unseren Kindern klarmachen, dass unsere Gesellschaft nicht blau und rosa ist. Dass sie immer schon wunderbar bunt war. Das schaffen wir über unsere Sprache und die Art, wie wir uns verhalten. "Wenn das Kind in den Kindergarten oder die Schule geht, wird es schwierig, sich der rosa Prinzessinenwelt zu entziehen, dann möchte dein Kind, was die anderen Kinder haben. Wenn dein Kind dann auch eine Puppe möchte, darf es das. Für Eltern ist es dennoch wichtig, dass sie offen für anderes bleiben.", so die Expertin.
Tipps zu inklusiver Sprache von Jenny Wilken:
- Es gibt nicht nur Mama und Papa: „Ein Elter“ ist eine Bezeichnung für ein Elternteil und ein geschlechtsneutraler Begriff, den du verwenden kannst. Steht sogar im Duden!
- Stelle klar, dass jede Person, unabhängig von ihrem Geschlecht, sprachlich mitgemeint ist Das kannst du durch ein Sternchen (Schüler*in), Unterstrich (Bäcker_in) oder den Doppelpunkt (Wissenschaftler:in). Großbuchstaben (z.B. KosmentikerIn) ist kein richtiges Gendern, da so nichtbinäre Menschen (die sich keinem der 2 Geschlechter zuordnen können) ausgeschlossen sind. Besser sind daher die 3 erstgenannten Varianten. Denn Sprache beeinflusst das Denken, so macht man deutlich, dass man alle Menschen mitdenkt.
- Bei der Aussprache machst du einfach dort eine kleine Pause, wo das eingefügte Satzzeichen stehen würde. Beispiel: Schüler Pause
- Schreib bitte trans als Adjektiv, klein und getrennt vom Nomen.
Ideen für Handlungen, die alle Geschlechter berücksichtigen:
- Lass dein Kind so sein, wie es sein möchte. Es ist völlig okay, wenn dein Sohn gerne Kleider trägt und rosa Glitzerhausschuhe toll findet. Oder deine Tochter kurze Haare trägt und ihre liebsten Freizeitaktivitäten Fußball und Autos sind. Daran ist nichts verwerflich.
- Sei offen und stell Geschlechterklischees bewusst infrage. Du darfst dich von Klischees ruhig lösen. Das ist oft nicht einfach und braucht Zeit, doch zu spät ist es nie dafür. Von Vorteil ist es, wenn die Pädagog:innen in Kita und Schule diese Ansicht unterstützen.
- Stell deinem Kind geschlechterübergreifende Spielangebote zur Verfügung. Spielzeug, das allen Spaß macht: Autos, Puppen, Werkbank, Spielküche. Es gibt auch eine Auswahl an neutralem Spielmaterial, das nicht geschlechterbezogen ist, wie Stoffpuppen ohne Geschlecht (Montessori-Puppen).
- Lies diverse Bücher mit deinen Kindern. Bereits im Kindergartenalter (3-6 Jahre) kannst du mit deinen Kindern Kinderbücher anschauen, die vermitteln, wie unterschiedlich Menschen sein können. ( Am 23.11.2020 erscheint ein Artikel zu diversen Kinderbüchern in unserem Magazin)
- Lebe vor, was du dir von und für deine Kinder wünschst. Vielleicht hast du eine Regenbogenfamilie in deinem Bekanntenkreis oder ein homosexuelles Paar. Der Kontakt zu verschiedenen Menschen ermöglicht es Kindern bereits sehr früh ihre Offenheit nie zu verlieren.
- Gehe entspannt mit dem Thema Geschlecht um. Manche Menschen haben eine Vagina und andere einen Penis. Es ist wichtig, dass du die Geschlechtsteile beim Namen nennst, sie gehören dazu. Weiche nicht den Fragen deines Kindes aus, ein offener Umgang ist gesund. Wenn Kinder von sich aus danach fragen, sind sie bereit für die Antwort.
Geschlechtliche Vielfalt bereichert uns
Du, dein Kind, die Nachbarin oder der Junge mit Kleid in der Kita – wir sind alle wunderbar vielfältige Personen, mit individuellen Merkmalen, Eigenschaften und Wünschen. Und wir alle verdienen es gleichermaßen, als Person gesehen und anerkannt zu werden. Die Fähigkeit, sich selbst und anderen mit Offenheit zu begegnen ist es, die unsere Gesellschaft reicher macht. Scham und Ausgrenzung, zum Beispiel in Schule und Job, machen krank. Deswegen bist du gefragt: Sei ein Vorbild. Gib deinen Kindern Sicherheit. Kinder brauchen einen Anker, der ihnen Halt gibt, sie umsorgt und so liebt, wie sie sind. Dann können sie sich auch selbst annehmen und ihr Leben leben.
Wir danken Jenny Wilken für die herzliche Zusammenarbeit und ihre Offenheit für dieses sensible Themenfeld und wünschen ihr für ihre Zukunft alles Gute!
Hier findest du weitere Informationen zu Transsexualität und Intersexualität:
Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V.
Verein Intersexuelle Menschen e.V.
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